Täuscht der Eindruck, oder war es in diesem Jahr an der Croisette in Cannes etwas leerer als sonst? Es könnte daran gelegen haben, dass gleichzeitig zu den dortigen Filmfestspielen am Rande des Zittauer Gebirges das 15. Neiße-Filmfestival (NFF) abgehalten wurde. Filmleute, die beide Festivals kennen, empfinden das NFF als das sympathischere. Leider aber können hier nicht so viele Geschäfte angebahnt werden, so dass die Hauptspielstätten in Zittau, Görlitz und Mittelherwigsdorf noch nicht überlaufen waren, wenn auch gut besucht. Herzstück und Keimzelle des NFF liegt im Kunstbauerkino in Großhennersdorf (in der Mitte zwischen Löbau und Zittau gelegen), wo Filmenthusiasten 2003 ein Filmfestival aus dem Boden stampften und es in Selbstausbeutung viele Jahre lang ehrenamtlich in jedem Mai der Region präsentierten. Die Idee dahinter war auch, den europäischen Gedanken zu stärken. Im Dreiländereck zeigen Spielstätten nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen und Tschechien die besten Filme junger Filmemacher, und auch junge Leute aus diesen Ländern arbeiten hier in Workshops zusammen.

Kurz zuvor lief in Schwerin das Filmkunstfest MV über die Leinwände des Capitol – mit der 28. Ausgabe nun schon ein Oldie, der sich bei Profis und beim Publikum großer Beliebtheit erfreut. Einst ging es aus einem bis dahin in Bonn abgehaltenen Wettbewerb für unabhängige und Arthouse-Produktionen aus der BRD, Österreich und der Schweiz hervor. Bis heute bilden diese Filme den Schwerpunkt des Wettbewerbs, wobei inzwischen auch fremdsprachige Produktionen vertreten sind, wenn sie einen deutschen Koproduzenten haben. Markantes Beispiel war der in Zusammenarbeit mit dem ZDF und arte entstandene türkische Film „Die Flucht“, in dem Kenan Kavut als Autorenfilmer anhand einer individuellen Geschichte auf die Flüchtlingsproblematik aufmerksam macht. Der Syrer Cabir flieht vor dem Krieg in seiner Heimat in die Türkei, wo er vor Verfolgung von einer Frau versteckt wird. Die beiden sprechen verschiedene Sprachen, verstehen sich aber wunderbarerweise trotzdem – vielleicht ein kleines Märchen in der harten Welt! So interpretierte es jedenfalls Hauptdarstellerin Jale Arikan in Schwerin.

Auch der Hauptpreis, der „Fliegende Ochse“, sowie zwei Nebenpreise wurden an einen Film mit Flüchtlingsproblematik vergeben. „Styx“, der nach dem todbringenden Fluss benannte Film des Österreichers Wolfgang Fischer, erzählt von einer allein segelnden Notärztin (Susanne Wolff). Sie wird Zeugin der Tragödie von Bootsflüchtlingen und kann nichts tun. Die Küstenwache verbietet es ihr per Funk, greift aber auch nicht ein. Als die Ärztin einen Flüchtlingsjungen rettet, wendet sich diese gute Tat gegen sie.

Den „Goldenen Ochsen“, den Ehrenpreis des Festivals erhielt Henry Hübchen, dem eine kleine Hommage mit sechs Filmen des Preisträgers gewidmet war, darunter der für einen Oscar nominierte DEFA-Film („Jakob der Lügner“, 1974). Regisseur Andreas Kleinert, der seine ersten Schritte ebenfalls bei der DEFA machte, stellte als Weltpremiere gemeinsam mit dem Preisträger den Film „Spätwerk“ mit Hübchen als alternder Schriftsteller in einer Schreibkrise vor, einen TV-Film, der unterdessen bereits Bildschirmpremiere hatte.

Die launige Laudatio für seinen Hauptdarsteller Hübchen („Alles auf Zucker“) hielt Dani Levy, der dabei ankündigte, dass er HH für eine Rolle in seiner bevorstehenden Verfilmung der „Känguru-Chroniken“ von Marc-Uwe Kling gewinnen will.

Auch die DEFA-Stiftung verlieh durch die Festival-Jury einen Preis, der an Julian Pörksen für „Whatever Happens Next“ vergeben wurde, ein realistisches Märchen über einen Aussteiger in mittleren Jahren (Sebastian Rudolph) und den ihn verfolgenden Detektiv (Peter René Lüdicke). Dieser Film sorgte schon bei der Berlinale in diesem Jahr für viel Aufmerksamkeit.

Dieser Film, wie auch andere aus Haupt- und Nebenreihen des Schweriner Programms war auch in Zittau im Wettbewerb des Neiße-Filmfestivals zu sehen. Augenfälligste Klammer zwischen beiden Festivals war der Dokumentarfilm „Usedom – Der freie Blick aufs Meer“ des aus der DEFA hervorgegangenen Regisseurs Heinz Brinkmann. Er stammt von der geteilten Insel (das heute polnische Swinoujscie war einst als Swinemünde die Inselhauptstadt) und ist auch auf die Geschichte der durch das Nazi-Reich vertriebenen Insulaner eingegangen. Das Thema des heutigen Rechtsradikalismus, das auch auf Usedom erneut eine nicht geringe Rolle spielt, hat Brinkmann allerdings beiseite gelassen, vielleicht um es in einem anderen Film eingehender zu behandeln. Ihm kam es auf die Veränderungen seit 1990 an, den Aufkauf der Grundstücke und den Abriss historischer Villen für unförmige Hotelbauten, die den freien Blick aufs Meer auf ihre Weise verstellen. Dabei fängt er liebevolle Porträts dort lebender Menschen ein, aber auch die neuen (teilweise verschenkten) Möglichkeiten der Nachbarschaft mit Polen spielen eine Rolle.

Im Dreiländereck kam das beim Publikum des NFF gut an. Wobei die fruchtbringende Zusammenarbeit mit tschechischen und polnischen Partnern schon durch die Wahl der Festival-Spielstätten in den drei Ländern zum Ausdruck kommt. Im tschechischen Varnsdorf lief die 70mm-Reihe des Festivals (wo leider die DEFA-Operette „Orpheus in der Unterwelt“ aus technischen Gründen ausfallen musste), und im polnischen Zgorzelec (früher zu Görlitz gehörend) wurde im 1902 von Kaiser Wilhelm II. als „Ruhmeshalle“ eingeweihten Kulturhaus die Preisverleihung in Anwesenheit des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und weiteren deutschen und polnischen Politikern vorgenommen. Hier heißen die Preise „Neiße-Fische“, und über einen solchen konnte sich Juraj Lehotský nach 2014 zum zweiten Mal freuen. In seiner slowakisch-tschechischen Ko-Produktion „Nina“ erzählt er von einer elfjährigen Schwimmerin, die in eine schlimme Situation gerät, als die Eltern sich trennen. Leider gibt es kein Happy End.

Bester Dokumentarfilm wurde „Familienleben“, das Langfilmdebüt von Rosa Hannah Ziegler. Sie führt auf einen Hof, den eine Mutter mit ihren beiden heranwachsenden Töchtern unter prekären Bedingungen bewirtschaftet. Biggi hat sich von ihrem Lebensgefährten getrennt, der in der Nachbarschaft wohnt. Es kommt zu harschen Auseinandersetzungen. Die trinationale Jury hob die respektvolle Empathie hervor, mit der die Regisseurin eine „Familie am Rande des Nervenzusammenbruchs“ beobachtet und einen „Kosmos von Chaos und trotziger Zärtlichkeit“ ausbreitet – mit Leuten aus einfachen Verhältnissen, die doch zu tiefgehenden Erkenntnissen fähig sind.

Überrascht zu sein schien Barbara Auer, der ein Neiße-Fisch für die beste Schauspielerin zuerkannt wurde. Sie hatte gemeint, nur für die Laudatio auf den Ehrenpreisträger Christian Petzold in Zgorzelec zu sein. In ihrer Rolle in „Vakuum“ der Schweizer Regisseurin Christine Repond spielt sie eine eigentlich glückliche Ehefrau, die von ihrem Mann mit HIV angesteckt wird, und zeigte eine ungewöhnlich große Skala von Gefühlen.

Sie stellte sich auch als Darstellerin in Filmen der kleinen Hommage für den Ehrenpreisträger dem Publikum, wobei es im Zittauer Kronenkino zu Petzolds Anna-Seghers-Verfilmung „Transit“ eine ungewohnt lange und fruchtbare Diskussion gab. Dass man anschließend noch in Großhennersdorf beim Lagerfeuer zusammensaß, hat Petzold genossen.

Hauptdarsteller von „Transit“ war Franz Rogowski, dessen Film „In den Gängen“ (Regie Thomas Stuber) wiederum in Schwerin den Preis der FIPRESCI-Jury erhielt, der ich für den BDMJ angehörte. Die internationale Vereinigung der Filmkritiker, könnte sich durchaus überlegen, ob sie nicht auch beim NFF eine solche Jury nominiert, denn international genug geht es auch in der Neiße-Region zu!