Weihnachtszeit in New York. In den frühen 1950ern. Nebel liegt über den Lüftungsschächten der U-Bahn und dem Trottoir. Todd Haynes hat im vollen Retro-Modus „The Price of Salt“ (auch bekannt als eben „Carol“) verfilmt, den 1952 unter Pseudonym erschienenen zweiten Roman von Patricia Highsmith. Kein Krimi, sondern eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen. Die eine Therese (Rooney Mara) ist eine 19jährige Verkäuferin in einer Spielwarenabteilung eines Kaufhauses, die gerne photographiert. Die andere, die Titelfigur (Cate Blanchett), mehr als zehn Jahre älter eine in Scheidung lebende Hausfrau der oberen Mittelklasse. Ihr Ehemann (Kyle Chandler) weiß um die heimliche, aber unbezweifelbar ausgelebte Homosexualität seiner Frau und erpresst sie mit dem zu verhandelnden Sorgerecht für die gemeinsame Tochter erpresst. Nebenbei hetzt er ihr die Schwiegereltern und nicht zuletzt einen Privatdetektiv auf den Hals.
Es geht um ein lesbisches Coming Out und eine vorsichtige sexuelle Initiation, sicherlich. Aber es ist auch die Geschichte einer Fluchtbewegung, der Reise der beiden Frauen im Auto von New York über Chicago quer durch das Land, von einem Motelzimmer zum anderen (ungefähr zu der Zeit, da „On the Road“ entstand und drei Jahre vor dem Erscheinen von „Lolita“).
Der „road movie“-Aspekt der Geschichte interessiert Todd Haynes allerdings nur beiläufig (schließlich denken die Leute bei „Lolita“ zunächst ja auch nicht an Motelzimmer, Autokinos, Kaugummi und Tennisschläger; sollten sie aber, sobald ihnen der Text wirklich in die Hand fällt). Es geht einmal mehr um die Potentiale und Implikationen des 50er-Jahre-Filmmelodrams, um bestimmte Formen des Blickes, die Bedeutung bestimmter überformter Gegenstände.
Da ist der Blick auf Cate Blanchett, wie sie in die Spielwarenateilung hereinschneit, um ein Weihnachtsgeschenk für ihre Tochter zu besorgen (die Verkäuferin, Rooney Mara, empfiehlt dann, die bereits in der Zuweisung des Spielzeugs hergestellte Ordnung der Geschlechter übertretend eine Spielzeugeisenbahn statt einer Puppe): platinblond, im Nerzmantel, nervös mit einer Zigarette und ihren Handschuhen fuchtelnd, eine soziale Souveränität verkörpernd, die jeden Augenblick droht, völlig zusammenzubrechen.
Rooney Mara (die im wirklichen Leben kein Teenager mehr ist, sondern auch bereits dreißig) wiederum wird als junge Audrey Hepburn inszeniert, samt Pagenschnitt und „Rehaugen“. Alles signalisiert „Jugend“, „carte blanche“ („Was weiß ich, was ich will. Ich weiß ja nichtmal, was ich zum Essen bestellen soll“, sagt sie). Und sie ist (potentiell professionelle) Photographin, mit dem entsprechenden Blick, den auf das eigene Filmmaterial zum Beispiel.
Auch das ist sicherlich kein Zufall. „Carol“ ist von Haynes Stamm-Kameramann Edward Lachmann im Super16mm-Format gedreht worden , (mit der vor zehn Jahren für die letzten richtigen Filme auf den Markt gebrachten Arriflex 416-Kamera), was der Sache einen schummrigen und schön flächigen look gibt.
Signifikant sind regelmäßig verschwommene Einstellungen durch Autofenster im Nieselregen – der filmische 50erJahre-Blues, zu bedeutungsschwer, um lediglich Retro-Geste zu sein, mehr Fetisch als Parodie, leicht zwielichtig und dennoch unterkühlt
Wenn man schon von Fetischen die Rede ist: Der Film hat – neben dem visuellen Leitmotiv der Autofenster, auch ein musikalisches: den 30er Jahre Jazzstandard „Easy Living“ (der auch in der Romanvorlage erwähnt wird). Im Film hört man die Version, die das Teddy Wilson Orchester 1937 mit Billie Holiday und Lester Young aufgenommen hat. klimpert den Song Therese/ Mara unbeholfen auf dem Klavier, wenn sie das erste Mal in Carols/Blanchetts Wohnung zu Besuch ist. Später schenkt Therese die Platte Carol während einer Verabredung in einem Café, Eine ziemlich deutliche Liebeserklärung („I’m so in love, there’s nothin‘ in life but you“ singt Billie Holiday). Cate Blanchett hält die Platte neben ihrer Kaffeetasse ziemlich lange in Großaufnahme in die Kamera. Das meerblaue Cover ist einfach nicht zu übersehen. Es handelt sich um die Auflage, die zusammen mit sieben andren Tracks 1949 als 10inch Vinyl-LP erschien. Bestimmte Schallplatten sind nicht immer leicht zu finden. Die Szene, in der Therese die Platte in einem Trödelladen auftreibt („Yes, that’s it. Thank you.“) fehlt nicht in dem Film. Die Schaufensterdekoration des Ladens besteht aus einer Nachstellung des berühmten „His Master’s Voice“-Logos mit Hund und Grammophon (in Großaufnahme), und kaum hat Therese/Mara die Platte auf der Ladentheke bezahlt, wirft sie den Blick zurück über die Schulter (in Großaufnahme), so als wähnte sie sich beobachtet, und sieht dann (im Gegenschnitt) neben dem Schaufenster ein Frauenpaar, das den Blick provokant erwidert. Das Paar ist durch Kleidung und Habitus (Hände besonders flegelhaft in den Anzugshosentaschen usw.) als lesbisch markiert („butch“ usw.).
Die Begegnung der Blicke evoziert recht deutlich, dass Therese zusammen mit der Platte gleichsam auch eine Eintrittskarte in eine ihr bis dahin noch kaum bekannte subkulturelle Welt erstanden hat. (Ist der Blick im Film immer männlich? Mitunter gibt es wohl parodistische Abweichungen.)
Das Melodrama handelt bekanntlich entweder vom
Exzess (und ist daher immer auch ein bisschen lächerlich) oder von einem auf den ersten Blick eher unauffälligen Widerstand gegen die (sozialen, sexuellen usw) Normen.
Anders als in seiner ähnlich angelegten Douglas Sirk-Hommage „Far From Heaven“ (2002, ) hat Todd Haynes mit Carol die Balance zwischen dem Fetisch-Zeichen-Exzess (die Douglas-Sirk-Verliebtheit, die Art, wie Cate Blanchett Schallplatte und Zigarette hält usw.) und einer diskreteren Art Aufruhr gefunden. Diesmal musste gar nichts groß erfunden, umgedeutet, entziffert, kein großes Fass aufgemacht werden. Es genügte, ganz arglos dem Romantext zu folgen, um zur Intensität einer Begegnung zu kommen:
Then as she was about to go to her Carol saw her, seemed to stare at her
incredulously a moment while Therese watched the slow smile growing, before her arm lifted suddenly, her hand waved a quick, eager greeting that Therese had never seen before. Therese walked toward her.“
hahn 2015