Arte-TV und die Fassbinder-Witwe und Leiterin der Rainer-Werner-Fassbinder Foundation Juliane Lorenz gaben der Dokumentarfilmerin Annekatrin Hendel („Anderson“, 2014) den Auftrag, gewissermaßen die Doku zum 70. Geburtstag des 1982 verstorbenen Fassbinder zu machen. Im Arte-TV-Oral History-Format.
Die versammelten Erzählungen bestätigen dann nocheinmal die mittlerweile mythologische Figur „Fassbinder – der diktatorische Charismatiker, das obsessive Arbeitstier, das bisexuelle, pansexuelle Drogentier
Etwas Neues erzählen, das ist wohl kaum mehr möglich. Denn, wie immer, ist „alles gedruckt, gelesen, belacht, verspottet…“, wie Manfred Hermes in seiner Fassbinder-Monographie „Deutschland hysterisieren“ Michail Bachtins Dostojewski-Monographie zitierend aus Dostojewskis Erstlingswerk „Arme Leute“ zitiert.

Das betrifft vor allem das „Oral History“-Format selbst, das ist im Grunde nur noch als „Selbst-)Parodie überhaupt nur ernsthaft ins Auge zu fassen ist (aus Studs Terkels das Genre etablierenden Buch „The Good War – An Oral History of World War II“ ist längst Max Books „World War Z – An Oral History of the Zombie War“ geworden und aus letzterem wiederum eine Verfilmung, die mit dem Format gar nichts mehr zu tun haben wollte).
Wenn nun die üblichen Verdächtigen (eine Phrase, bekanntlich vom berühmten Märchenfilm „Casablanca“ geprägt) das Bekannte und Willkommene im Arte-TV-Oral History-Format so nacherzählen, wie es von ihnen auch erwartet wird, dann bleibt dies in erster Linie natürlich aussagekräftig über eben diese Form des Nacherzählens und mithin die (Selbst-)Inszenierung der jeweiligen Akteure.
Weiterhin beeindruckend beispielsweise die ungeheuerliche, geradezu machiavellistische Biederkeit eines Volker Schlöndorff. Oder die endgültig esoterische Entspanntheit einer beim Reden stets mit irgendwelchen Bastelarbeiten beschäftigten Hanna Schygulla. Oder der Galgenhumor einer in der Probenpause auf der Theaterbühne posierenden Irm Herrmann.
Und dann vor allem die professionelle hanseatische Nüchternheit einer auch in der bekanntlich als solche selten unpeinlichen Interviewsituation vornehmlich mit TEXT, zumal von Fassbinder verfasstem, beschäftigten Margit Carstensen.
Doch selbst Carstensen kommt nicht vorbei an der genuin
romantischen Haltung in jeder künstlerischen Äußerung letztendlich eine autobiographische zu sehen. Diese unkaputtbare, so universell erfolgreiche wie fatale romantische Idee hat gerade bei der kollektiven, industriellen „Filmkunst“ (nie so deutlich wie heutzutage, wo die digitalen Animationsfilme von sozusagen Bürokollektiven wirklich geschrieben, i.e. programmiert werden – „writing code“) ihren ganz besonderen Charme nie verloren, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Idee eines Autorenkinos im emphatischen Sinne ja eine geschriebene Autorenidee des Frankreich der 1950er ist. Der Regisseur als Autorität, als Diktator (Erich von Stroheim, Fritz Lang) oder voyeuristischer böser Demiurg (Hitchcock) ist seither eine unterhaltsame Märchenfigur geblieben. Fassbinder, der „Kunst“ erklärtermaßen „nicht mochte“, war sich auch dessen wohl ziemlich bewusst. In einem der „Zwischenbilanz“ seiner ersten zwanzig Filme gewidmeten Interview erklärte er 1974: „Vieles in den ersten zehn Filmen gefällt mir, ganz einfach auch deshalb, weil die Filme meine damalige Situation auch ganz konkret ausdrücken. (…) Aber dennoch rechne ich die neun Filme bis ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘ nicht richtig. Sie sind zu elitär und zu privat, sie wurden eigentlich nur für uns und unsere Freunde gemacht. (…) Für mich war es wichtig, aber objektiv gesehen ist es nicht richtig. Mit ‚Warnung vor einer heiligen Nutte‘ ist es ganz anders. Der Film handelt zwar von Dreharbeiten, aber das eigentliche Thema ist, wie die Gruppe arbeitet und wie Führer-Positionen entstehen und ausgenützt werden. Und dieses Thema ist objektiv gesehen wichtig.“ (nach R.W.F., Die Anarchie er Phantasie, Gespräche und Interviews, hrsg. v. Michael Töteberg, F.a.M. 1986).
Was aber bedeutet Fassbinders Werk jetzt und hier, abseits der Jubiläumsfeierlichkeiten? Manfred Hermes ist in seinem Buch recht skeptisch: „Obwohl es keinen künstlerischen Einfluss Fassbinders auf den deutschen Film gegeben hat, erscheinen die Konstruktionen deutscher ‚Geschichtsfilme‘ der letzten Jahre geradezu wie das Negativ seiner Ansätze, bei manchmal geradezu unheimlicher Überschneidung von Themen und Motiven“.
Dass er damit unbezweifelbar richtig liegt, zeigt wiederum ein aktuelles Buch über den jüngeren deutschen Film auf geradezu unheimliche Weise. Programmatisch heißt es „Good Bye, Fassbinder!“ und ist von dem französischen Kritiker Pierre Gras verfasst (auch der neueste deutsche Film ist wie der alte neue deutsche Film nie etwas anderes als die Erfindung der französischen Kritik gewesen). Fassbinders „Einfluss“ ex negativo wird darin anhand einer Szene aus Wolfgang Beckers Film „Good Bye, Lenin“ festgehalten:
„Das Freuden-Feuerwerk über den Sieg der Fußballweltmeisterschaft ist im Ostberlin des Films von den Dächern aus sichtbar.. In gewisser Hinsicht ein Zitat, denn schon in „Die Ehe der Maria Braun von Fassbinder wird der Gewinn des Titels in Bern 1954, der damals als Zeichen des wiedergefundenen deutschen Selbstvertrauens galt, mit dem Verschwinden der Maria Braun, die ihr Leben dem Wiederaufbau geweiht hat und sich mit ihrem Haus in die Luft sprengt, parallel geführt.“
Für Gras ist dieses „triumphale Feuerwerk“ Zeichen eines „neu erwachten Anspruchs“: „Eine nationale Filmindustrie, die während der 90er Jahre international bedeutungslos geworden ist, kehrt 2003 überzeugend zurück.“ Wir sind wieder wer. Gespenstisch.
Natürlich erinnert sich in Hendels „Fassbinder“ auch Hanna Schygulla an ihre Rolle als Maria Braun (die sie ja tatsächlich zu so etwas wie einem internationalen Filmstar der 1980er gemacht hat) palavert etwa vom neuen Selbstbewusstsein der Frau, deutet aber auch an, dass Maria Braun ja vor allem eine skrupellose Opportunistin war, die ihre Karriere entschlusskräftiger Prostitution und (als deren Nebeneffekt) sehr guten Englischkenntnissen zu verdanken hatte.

„Fassbinder“. BRD 2015. Regie: Annekatrin Hendel. 92 min.

Pierre Gras – „Good Bye, Fassbinder. Der deutsche Kinofilm seit 1990.“, aus dem Franzöischen von Marcus Seibert, Alexander Verlag Berlin 2015

Manfred Hermes: „Deutschland hysterisieren“. b_books, Berlin 2011

hahn, 2015