(Dieser Artikel erschien zuerst in der „Rheinpfalz“)
Die Kanadierin Lia (Devery Jacobs) in „The Sun at Midnight/Mitternachtssonne“ wird ebenso wie der Franzose Nassim (Khaled Alouach) in „De tout mes forces/Machs gut!“ durch den plötzlichen Tod der Mutter aus dem bisherigen Leben gerissen. Der Junge geht auf ein angesehenes Gymnasium in Paris, alle Türen standen ihm offen. In dem Drama von Chad Chenouga verschweigt er seinen aus betuchten Elternhäusern stammenden Freunden, dass er nun in einem Heim in den Vororten von Paris untergebracht ist, wo ein rauer Umgangston herrscht. Einzig Zawa hat den Ehrgeiz, ein Studium zu beginnen. Die beiden schließen einen Deal. Er hilft ihr bei den Prüfungen für die Aufnahme in die Uni, sie unterstützt ihn in Mathe.
Die aufmüpfige Teenagerin Lia mit den gefärbten Haaren und den Piercings im Gesicht aus dem Film von Kirsten Carthew hat dagegen noch eine Verwandte, ihre Großmutter. Die Inuit lebt in einem kleinen Dorf im Norden von Kanada, wo der Lauf der Sonne das Leben bestimmt. Lia langweilt sich, sie fühlt sich verlassen und alleine. Sie sieht nur eine Chance, der Ödnis zu entfliehen. Sie macht sich in einem alten Boot auf die Reise nach Dawson City. Als der Motor streikt, ist sie auf sich angewiesen. Sie irrt durch die Wälder, immer auf der Hut vor Bären und Wölfen. Glücklicherweise wird sie bald vom einheimischen Jäger Alfred (Duane Howard) aufgelesen, der sie mit auf die Suche nach den Karibus nimmt. Ohne das Fleisch und das Fett der Tiere können die indigenen Völker nicht überleben.
Die große Mehrzahl der Filme für Teenager des 22. Kinder- und Jugendfilmfestivals in Chemnitz entführten die jungen Zuschauer in zauberhafte Landschaften, die selbst Teil der Erzählung werden. Sei es die sonnendurchflutete, wilde Tundra im Norden des amerikanischen Kontinents oder die stillen Seen Finnlands in „Saattokeikka/Eine ungewöhnliche Reise“. Regisseur Samuli Valkama schickt den 17jährigen Kamal (Mikko Nousainen) auf die Suche nach seinem Vater. In Helsinki geboren, hat der Junge einen Teil seiner Wurzeln in Afrika. Für das Flugticket zu seinem Vater nimmt er einen ungewöhnlichen Job an. Er begleitet seinen latent rassistischen Nachbarn Veikko (Saga Sarkola) auf einen Trip zu seinem Sommerhäuschen. Bald hat Kamal das erste Mal in seinem Leben Frühlingsgefühle im Bauch, er muss sich mit einigen abfälligen Sprüchen und offenem Hass auseinandersetzen. Doch vor allem begegnet er hilfsbereiten, offenen Menschen, die ihm zur Seite stehen.
Die Suche nach der eigenen Identität, Versagensängste, erste Küsse und sexuelle Erlebnisse sowie die Auseinandersetzung mit Tod und Verlust waren die inhaltlichen Schwerpunkte des Festivals, das in diesem Jahr von der Bundesregierung den Status als Referenzfilmfestival verliehen bekam. Deutsche Filme oder Koproduktionen mit deutscher Beteiligung erhalten mit der Einladung in einen der vier Wettbeerb automatisch einen finanziellen Bonus, der es Produzenten und Regisseuren erleichtert, das nächste Projekt zu starten. Doch in die drei Wettbewerbsprogramme für Kinder- Junior- und Jugendfilme sowie Animationsfilm schaffte es kein einziger Film Made in Germany.
Das einheimische Filmschaffen für die Altersgruppe zwischen vier und 16 kam dennoch nicht zu kurz. In der Reihe „Blickpunkt Deutschland“ begeisterten unter anderem „Die Häschenschule – Jagd nach dem Goldenen Ei“, „Jugend ohne Gott“, „LOMO – The language of many others“ sowie „Tigermilch“ und „Rock my heart“. Letzterer lief als Vorpremiere auf Empfehlung der Jugendjury der Filmbewertungstelle (FBW), die einen ihrer acht Standorte in der sächsischen Metropole hat.
Traditionell stark vertreten waren die Niederlande, Dänemark, Russland, Frankreich und Kanada. Vor allem Teenagerinnen aus der Heimatstadt von Eisstar Kati Witt liebten das bittersüße Drama „Kiss & Cry“. Es erzählt die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte der Eiskunstläuferin Carley, die von ihrer besten Freundin Sarah Fisher gespielt wird. Als Carley von einer seltenen Krankheit ans Bett gefesselt wird, stehen ihre Familie und ihr Freund John (Luke Bilyk) an ihrer Seite.
Ein ungewöhnliches Schicksal schildert auch „Gae-Chun-Hal-Mang/Ein Meer aus Salz und Blüten“ des Südkoreaners Yoon Hong-Seung, Gewinner des Preises der Jugendjury. Gyechun (Youn Yuh-Jung) übt ihren traditionsreichen und gefährlichen Beruf als professionelle Taucherin auf der pittoresken Insel Jeju noch in hohem Alter aus. Sie ist gezeichnet von zwei schweren Schicksalsschlägen. Nach dem frühen Tod ihres Sohnes kümmerte sie sich um ihre Enkelin Hye-je. Die fünfjährige verschwindet in einem unaufmerksamen Moment auf einem Marktplatz spurlos. Seitdem suchte Gyechin das Mädchen. Nach knapp 20 Jahren taucht Hye-Je (Kim Go-Eun) wieder auf und das Glück scheint perfekt.
Der Film bietet neben einer berührenden Geschichte auch einen vielschichtigen Blick in Tradition und Realität des asiatischen Landes. Das gelingt auch Oxana Karas in ihrem russischen Hit „Charoschyi Maltschik/Guter Junge“. Neuntklässler Kolja Smirnow (Semjon Treskunow) verknallt sich in seine Englischlehrerin, während er sich der Avancen der Tochter des Schuldirektors erwehren muss. Zu allem Überfluss brennt wenige Tage vor Beginn der Sommerferien der Computerraum der Schule ab und Koljas Vater, ein verschrobener Wissenschaftler, beharrt darauf, dass die Familie in der Nacht nicht mehr schlafen solle.
Kolja ist einer der wenigen unter den jungen Filmhelden, der nicht dem runden Leder hinterherjagt. Der Fußball hat die Welt und die Träume der Kids fest im Griff. Er bestimmte das Aufwachsen von Sander (Tonko Bossen), Chris (Bente Fokkens) und Maarten (Joes Brauers) in „Kappen/Genug“. Stets gewannen und verloren sie gemeinsam. Nun ist Sander auf dem Sprung in die erste Männermannschaft, während Chris mit dem ein Jahr älteren Emiel (Timo Wils) um die Häuser zieht. Die beiden werden in der fesselnden und spannenden Story von Tessa Schram bald zum Schrecken der kleinen niederländischen Gemeinde. Sie ziehen Handys, Geld und Kleidung bei ihren Mitschülern ab. Als Sander sie zufällig beobachtet, beginnt ein gefährlicher Kreislauf aus Erpressungen und Entführungen.
Spannend wird es auch im polnischen Mystery-Film „Die blaue Tür“ von Mariusz Palej, der den Publikumspreis gewann. Nach dem Autounfall seiner Mutter muss der elfjährige Lukasz (Dominik Kowalczyk) aus Warschau zu seiner Tante ziehen, die in einem abgelegenen Spukschloss an der Küste wohnt. In dem Zimmer, das einst seine Mutter bewohnt hatte, entdeckt er eine magische Tür, die in eine farbenfrohe, bedrohliche Phantasiewelt führt.
In „Just Charlie/Einfach Charlie“ der Britin Rebekah Fortune ist der begnadete Fussballer Charlie (Harry Gilby) gefangen im Körper eines Mädchens. Mutig stellt er sich trotz der anfänglichen Ausgrenzung in der Schule und der Ablehnung durch seinen Vater dem neuen Leben als Fußballerin. Der Film wurde mit dem Hauptpreis der Sächsischen Landesmedienanstalt SLM und dem Filmpreis der Juniorjury ausgezeichnet.
Auch Lucas (Caua Martins) aus der brasilianischen Provinz leibt das runde Leder. Nach einem Unfall ist der 13jährige an den Rollstuhl gefesselt. Trotzdem macht er sich in dem Roadmovie „Sobre Rodas/Auf Rädern“ von Mauro D´Addio auf die Suche nach seinem Vater. Der junge Hauptdarsteller nahm den Preis der Ökumenischen Jury mit nach Hause. Das Leben mit einer Behinderung wird in dem Film niemals problematisiert, alle Hürden sind überwindbar. Dieses Bild einer inkludierten und gleichberechtigten Gesellschaft zieht sich durch alle Filme des Programms, von dieser optimistischen Sicht können sich deutsche Filmemacher eine Scheibe abschneiden, die Anderssein allzu oft lieber als Problem denn als Chance zeigen.
Das hervorragende kuratierte Chemnitzer Programm wurde zeitgleich auch in Leipzig und Zwickau gezeigt, durch die herausragenden Beziehungen des Teams um Michael Harbauer werden viele Filme die jüngsten Zuschauer auf den Festivals in aller Welt begeistern. Ein Wehrmutstropfen aber bleibt. Viele Titel haben eine Kino- oder zumindest eine Fernsehauswertung verdient, doch selbst die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender werden ihrer Verantwortung, die vielfältigen Lebenswelten von Heranwachsenden abzubilden, seit Jahren nur unzureichend gerecht.