Der US-Regisseur Oliver Stone wird 70 – Er zeigt die Schattenseiten des amerikanischen Traums

„Die Regierung lügt. Immer. Und sie wird immer besser darin“. Das sagte Oliver Stone am Samstag beim Festival von Toronto, als er seinen neuen Film „Snowden“ vorstellte. Seit gut 30 Jahren zeigt Stone die dunklen Seiten des amerikanischen Traums.  Darin ist er konsequent. Er provoziert. Neben Steven Spielberg und Clint Eastwood ist er der wichtige Regisseur Amerikas, der sich mit Geschichte und Politik befasst. Heute wird er 70 Jahre alt.

Ein Spielfilm über den Whistleblower Edward Snowden war überfällig. Doch wer außer Stone hätten ihn machen sollen? Es gibt niemanden sonst, der mit so viel Zorn auf die US-Regierung losgeht, egal, wer gerade an der Macht ist. Vor genau 30 Jahren begann er damit: Sein Kriegsfilm „Platoon“, der ihm den silbernen Bären für die beste Regie bei der Berlinale einbrachte und vier Oscars bekam (auch für Regie und den besten Film), zeigte schonungslos und emotional, wie ein Soldat voller Ideale in den Vietnamkrieg zieht, schlimme Grausamkeiten miterlebt und daran verzweifelt. Stone wusste, was er drehte. Er war selbst ein Patriot mit Träumen, der einige Monate in Vietnam an der Front war und dabei Alpträume durchlebte, die ihn nie wieder losließen. Er wurde verletzt und wurde für mutiges Verhalten ausgezeichnet. Das machte „Platoon“ und die anderen Kriegsfilme des jungen Regisseurs, der unter einem Lehrer namens Martin Scorsese  an der New Yorker Filmhochschule das Handwerk gelernt hatte, so glaubwürdig. Was nicht so bekannt ist: Stone kommt aus einer wohlhabenden Familie, er ist nicht nur von Johan Wayne geprägt sondern auch von Europa, seine Mutter war Französin, er verbrachte einen Teil seiner Jugend in Frankreich, spricht sehr gut Französisch und mag auch deutsche Schriftsteller wie Goethe. „Du bist entweder als Verrückter geboren oder als Langweiler“, sagt Stone und stellte es das Zitat an den Anfang seiner Webseite, so wie er auch jedem seiner Filme ein Zitat voranstellt. Damit man gleich was zum Nachdenken hat. Reine Unterhaltungsfilme macht er nicht.

„Platoon“ war der Anfang.  Aber was für einer: Minen zerfetzen Körperteile der US-Soldaten vollkommen überraschend in Großaufnahmen, denen man sich nicht entziehen kann. Ein Offizier erschießt einen Soldaten und behauptet, der Vietcong sei es gewesen. Später wird der Offizier von einem seiner eigenen Soldaten dafür erschossen aus Rache. Das waren Szenen, mit denen Stone die ganze Nation provozierte und eine Diskussion über den Vietnamkrieg anzettelte. Mit „Geboren am 4. Juli“ (1989, der nächste Regie-Oscar) und „Zwischen Himmel und Hölle“ (1993) kamen weitere Antikriegsfilme dazu – auch mit Schockszenen – und immer mit einem Soldaten im Mittelpunkt, der stellvertretend für Stone und für ganz Amerika leidet und die Regierungen angreift, die Soldaten in den Krieg schicken.

In seinen besten Filmen  schafft es Oliver Stone, die Zuschauer so zu packen, dass sie erst einmal entsetzt sind, den halben Film damit verbdringen, den Schock zu verarbeiten und dann hoffentlich anfangen, sich Gedanken zu machen. Nicht nur über die Lügen, mit denen Soldaten in den Krieg geschickt werden, auch andere Mythen werden entlarvt: In „Wall Street“ (1987) macht Stone, Sohn eines Brokers, allen klar, dass es an der Börse nicht immer mit legalen Mitteln zugeht und die Ahnungslosen hemmungslos geschröpft werden. In „JFK – Tatort Dallas“ (1991) schlug sich Stone auf die Seite der Theoretiker, nach denen der Mann, der erschoss, kein  kein Einzeltäter war, sondern Teil einer weitverzweigten Verschwörung im Staatsapparat, um so zu versuchen, das Tabu-Thema wieder in die Öffentlichkeit zu bringen. Es funktionierte: Er löste wieder eine landesweite Debatte aus.

Keine Frage, die 80er und 90er Jahre waren Stones große Zeit. Man kam nicht umhin, über seine Film zu diskutieren, sei es über die krude Gewalt in „Natural Born Killers“ (1994, ausnahmsweise nicht nach eigenem Drehbuch, sondern nach dem von Quentin Tarantino) oder in „Nixon“ (1995) über einen Präsidenten, der will, dass ihn alle lieben, aber rücksichtslos vorgeht, um seine Ziele durchzusetzen. „Mächtige Menschen ziehen mich an – und machen mir auch Angst. Deshalb bin ich grundsätzlich kritisch gegenüber Autoritäten“, sagt Stone. Das Etikett „politischer Filmemacher“ hört er nicht so gern, „ich sehe meine Filme vor allem als Dramen über einzelne Menschen in persönlichen Kämpfen“, sagt er.

In den Nuller Jahre – auch nachdem er mehrfach wegen Drogendelikten in den Schlagzeilen war – verlegte er sich auf (natürlich politische) Dokumentarfilme: Er interviewte und porträtierte seinen Freund Fidel Castro („Commandante“, 2003, „Looking for Fidel“, 2004), Palästinenserführer Yasser Arafat und seine israelischen Gegenspieler („Persona non grata“, 2003), den Hugo Chávez von Venezuela („South oft he Border“, 2009). Doch große Erfolge waren ihm weder damit, noch mit seinen Spielfilmen über Alexander den Großen („Alexander“, 2004) und  George W. Bush („W“, 2008) beschieden. Auch seine Fortsetzung „Wall Street: Geld schläft nicht“ (2008) und zuletzt sein Drogen-Thriller „Savages“ (2012) floppten. Doch seine Fernsehserie „Amerikas ungeschrieben Geschichte: Die Schattenseiten der Weltmacht“ wird allgemein gelobt.

Stone schrieb auch Drehbücher für andere. Sein erstes Drehbuch „12 Uhr nachts“ (1978), das Alan Parker verfilmte, hatte ihm schon seinen  ersten Oscar eingebracht. Er produziert fast alle  seine Filme selbst, manchmal auch die von Kollegen (etwa 1990 den Polizeifilm „Blue Steel“ der späteren Oscar-Gewinnerin Kathryn Bigelow, 2015 den Dokumentarfilm „Ukraine on Fire“) und machte immer wieder mit politischen Äußerungen und Aktionen von sich reden. Nicht wenige Amerikaner halten Stone für einen Vaterlandsverräter, andere werfen ihm vor, gegenüber Castro, Chavez und anderen Führern zu unkritisch zu sein. Das kann ihm bei „Snowden“, einem Film, der einem den Menschen, seine Gefühle und sein Alltagsleben vor dem Gang an die Öffentlichkeit nahe bringt, wieder passieren. Denn vor ein paar Jahren und jetzt wieder in Toronto betonte er, dass er in ihm einen der großen Helden der US-Geschichte sieht. „Vielleicht kann mein Film helfen, dass der Spionage-Vorwurf fallengelassen wird und Snowdon von Obama begnadigt wird“, sagt der Mann, der auch mit 70 das Träumen noch nicht ganz aufgegeben hat.