Mit „Shoah“ veränderte er die Sicht auf den Holocaust: Heute wird der französische Dokumentarfilmer Claude Lanzmann 90 Jahre alt

Es ist kein Zufall, dass der französische Dokumentarfilmer Claude Lanzmann seinen 90. Geburtstag ausgerechnet in Deutschland verbringt. Denn dort fing er an, neugierig zu werden. Er studierte 1947/48 in Tübingen und war 1948/49, während der Berliner Blockade  Lektor an der Freien Universität. Heute Abend spricht er an der FU, die ein Symposium zu seinem Lebenswerk ausrichtet, die Filme über den Holocaust. . Es trägt den Titel: „Der Blick des Jahrhunderts“.

Der neue Blick, den der schon über 40-jährige filmische Autodidakt aus Paris fand, der als Schüler im Widerstand gegen die Nazis kämpfte, galt dem Holocaust in den deutschen Konzentrationslagern. Er fand ihn, weil er keine Wahl hatte und anfangs auch kein Konzept. Er wollte nicht das Grauen zeigen, sondern Zeitzeugen befragen, vor allem Mitarbeiter der Sonderkommandos, die mit der Vernichtung der Juden in den KZs zu tun hatten. Über die Details der Vernichtung gab es kein Material in den Archiven, da hatten die Nazis aufgepasst. 1974 begann Lanzmann mit den Interviews, er drehte fünf Jahre, hatte 350 Stunden Material.

1985, nach zwölf Jahren Arbeit, war der Film fertig, den er eigentlich „Der Ort und das Wort“ nennen wollte, poetisch und passend zu seiner Methode: Lanzmann ging mit den Zeitzeugen heute an die Orte des Schreckens von damals und brachte sie dazu, ihre Gefühle, ihre Erinnerung und Worte zu finden, um zu beschreiben, was geschah. Der Film hieß schließlich „Shoah“. Er ist neuneinhalb Stunden lang und war für den Dokumentarfilm das, was „Star Wars“ (1977) für den Science-Fiction war: etwas vorher Unvorstellbares.

„Shoah“ beginnt auch wie „Star Wars“: mit einer sich langsam vorwärtsbewegenden Schrifttafel in großen Buchstaben, mit dem Vernichtungslager Chelmno bei Lodz in Polen, mit den einzigen zwei Überlebenden Insassen, der eine war damals ein Kind. Lanzmann bringt den inzwischen 47-jährigen dazu, mit ihm nach Chelmno zurückzugehen. Man sieht Landschaften, den Mann im Boot, man sieht die Wiesen, die früher Gräben mit Toten waren, und man hört, wie der Mann erzählt. Von den Zügen, aus denen Leichen fallen, von Hunger, Angst und Durst, von der Gaskammer. Immer wieder geht der Blick in die Dörfer und Landschaften, die heute so unschuldig aussehen. Die Diskrepanz entsteht erst in den Köpfen der Zuschauer. Das ist das eine Geheimnis der Films, der zu keiner Sekunde langweilig oder beliebig ist. Das zweite ist, dass Lanzmann inszeniert: Den Friseur, der längst im Ruhestand, lässt er in einen Friseursalon von heute gehen und quasi sich selbst spielen, das hilft ihm beim Erinnern und macht das Erzählen lebendig. Manchmal sieht man auch Lanzmann selbst, wenn er interviewt und am Ort des Geschehens steht. Es war nicht Michael Moore, der (mit seiner 2002 oscargekrönten Doku „Bowling for Columbine“) die Form der Selbstinszenierung im Dokumentarfilm kultivierte, und auch nicht Marcel Ophüls, der in seinen Interviews die Nazi-Täter heimsuchte (und 1988 dafür mit „Hotel Terminus“ einen Oscar bekam), es war Claude Lanzmann. Mit dem Unterschied, dass Lanzmann alles viel subtiler machte und nie sich, sondern immer sein Thema in den Vordergrund stellte. Vor allem: seine ruhige, stets distanziert wirkende Stimme und sein nicht perfektes Deutsch waren es wohl, die die Männer – Frauen kommen kaum vor – aus der Reserve lockte.

Aus dem Material, das er in „Shoah“ nicht verwendete, entstanden später seine anderen, normal langen Holocaust-Filme „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr (2001, über einen Aufstand im Lager), „Der Karski-Bericht“ (2010) und zuletzt „Der Letzte der Ungerechten“ (2013 über den zwiespältigen Rabbi Benjamin Murmelstein, der als Judenrat im Nazi-Muster-Ghetto Theresienstadt zwar für die Nazis arbeitete, aber viele Juden vor der Deportation rettete). Mit einer Mischung aus Beharrlichkeit und einem immens großen Wissen über den Holocaust, das bei seinen Fragen durchblitzt, macht er jeden seiner Filme zu einer mitreißenden, oft allerdings auch schockierenden Geschichtsstunde. Privat ist der frühere Geliebte von Simone de Beauvoir, der zeitweise mit einer deutschen Schauspielerin (Angelika Schrobsdorff) verheiratet war, schon zugeknöpfter, mitunter störrisch und exzentrisch. Aber der vom Journalismus kommende Literat erzählt gern und beschreibt mit viel Witz und Poesie auch Schauspieler, Politiker und das Leben in seinen Büchern, zuletzt in seiner Autobiografie „Der patagonische Hase“ (2012). Vor drei Jahren bekam Lanzmann den Ehrenbären der Berlinale. Es war ein schwacher Trost für den (Ehren-)Oscar, den er verdient hätte und nie bekam, was ihn wo er doch viel ehrlicher und objektiver den Holocaust schilderte, wie Steven Spielberg in (dem auch oscargekrönten Spielfilm) „Schindlers Liste“, den er öffentlich angriff. Dass jetzt ein 40-Minuten-Dokumentarfilm über ihn („Claude Lanzmann: Spectres of the Shoah“) auf der Oscar-Shortlist steht, ist die Ironie des Schicksals, das Lanzmann mit Sprüchen wegwischt: „Ich glaube an die Reinkarnation. Ich hoffe, dass meine Seele in einem Hasen weiterlebt“.